ÜBER DEN SCHEINBAREN WIDERSPRUCH ZWISCHEN FUNDAMENTALISMUS
UND REALPOLITIK
Berlin August 2008
Autorin: Margot Müller, Bundessprecherin der Feministischen Partei DIE FRAUEN Bundesmitfrauenrundbrief 41, Hg. Bundessprecherinnenrunde
Für die politisch interessierte Leserin, die alt genug ist, die Entstehung und Entwicklung der GRÜNEN verfolgt zu haben, sind die Begriffe „Fundamentalismus“ und „Realpolitik“ und die damit verbundenen Diskussionen bekannt.
Für Jüngere sei gesagt, dass diese Begriffe Wortschöpfungen der GRÜNEN sind. Die Auseinandersetzung selbst aber ist älter; sie wurde von allen systemkritischen Parteien geführt und wurde vorher in der StudentINNenbewegung und in der ArbeiterINNenbewegung als Widerspruch zwischen Reform und Revolution bezeichnet. Fast immer ließen sich in diesen Diskussionen DREI Strömungen ausmachen.
Die erste war der Meinung, dass Reformen Revolutionen, d.h., grundsätzliche Veränderungen, verhindern oder zumindest erschweren. Also: Alles oder Nichts. Der Grundgedanke dabei ist, dass die Menschen umso eher zu einer Revolution bereit sind, je schlechter es ihnen geht. Gerade in Deutschland wurde durch den Nationalsozialismus bewiesen, dass dieser Gedankengang nicht nur falsch und menschenverachtend, sondern sogar äußerst gefährlich ist.
Die zweite Strömung wollte „lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“. Eine buchstäblich bestechende Politikvariante, denn sie bringt ihren VertreterINNen erst einmal schnelle Scheinerfolge und ganz reale Pöstchen und versandet danach schnell perspektivlos im selbstgeschaffenen Sumpf aus faulen Kompromissen und angeblichen Sachzwängen: die sogenannte „Realpolitik“, wie wir sie gut kennen.
Die dritte Strömung wollte unmäßiger Weise schon immer sowohl den Spatz als auch die Taube. Dies ist die schwierigste Variante, denn sie erfordert sowohl Mut als auch Rückgrat und Kühnheit und das im lang andauernden, unnachgiebigen Einsatz.
Den GRÜNEN ist es gelungen, durch hartnäckiges Gegeneinanderstellen der ersten und zweiten Strömung – auch Polarisieren genannt – sowohl die erste als auch die dritte Strömung auszuschalten. Übrig geblieben sind die sogenannten RealpolitikerINNen, die wir alle kennen. Der sogenannte „Fundamentalismus“ wurde als weltfremd und verschroben in eine Schublade gepackt.
Seither ist es in der Politik üblich, von dieser gierigen dritten Strömung – sollte sie sich irgendwo zeigen – energisch zu verlangen, sie solle sich umgehend der sogenannten „Realpolitik“ unterordnen. Ansonsten wird ihr das Etikett „Fundamentalismus“ aufgepappt und von ihr gefordert, in der entsprechenden Schublade zu verschwinden.
Zum Glück ist diese Schublade viel zu klein für die dritte Strömung. Und es gibt keinen Grund, warum sie sich der „Realpolitik“ unterordnen sollte. Dafür ist sie viel zu groß und vernünftig. Sie kann die „Realpolitik“ beinhalten ohne ihre Ziele aufzugeben.
Wer eigentlich ist diese sogenannte „Realpolitik“, dass sie einen Alleinherrschaftsanspruch formuliert? Sie ist doch nur Mittel zu einem Zweck: die programmatischen Ziele – in unserem Falle eine Welt, in der nicht nur der „Mensch“, sondern auch Frauen und Kinder glücklich in einer intakten Natur und einer gewalt- und herrschaftsfreien Gesellschaft leben können – zu realisieren. Denn diese Ziele werden nicht durch noch so hartnäckiges Hoffen, Beten oder Wünschen Wirklichkeit. Eine bessere Welt, ein besseres Leben, wird nicht irgendwann eines Tages plötzlich vom Himmel fallen – als Geschenk von der „lieben Gott“ oder so.
Alle Verbesserungen in der menschlichen Gesellschaft geschahen nicht automatisch, sondern mussten leider mit viel Blut, Schweiß und Tränen – und in der Realpolitik – erkämpft werden. Und auch wir Frauen sind und werden von diesen Kämpfen nicht verschont. Wir haben nur die Wahl, sie entweder zu erleiden oder sie auszufechten und dabei unseren Platz in der Geschichte einzufordern.
Die Zeit der Illusionen, des Glaubens an schnelle und leichte Erfolge, ist vorbei. Wir sollten uns und den anderen Frauen klar machen, dass wir nie etwas geschenkt bekamen und bekommen werden. Ohne dass wir unseren Platz in der Realpolitik behaupten und ausbauen, können wir in der realen Welt nichts erreichen. Um unser Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu erreichen, ist es unumgänglich notwendig, den Frauenanteil in der Politik, vor allem in allen entscheidungsfähigen Instanzen, mehrheitsfähig und dem weiblichen Bevölkerungsanteil entsprechend zu erhöhen, alle Diskriminierungen, die der Erreichung dieses und unserer anderen Ziele im Wege stehen, zu beseitigen und der weiblichen Bevölkerung die Notwendigkeit einer politischen Organisierung zur Verbesserung ihrer Lebenslage sowie die taktische und strategische Bedeutung einer eigenständigen Machtbasis in Form einer feministischen Partei zu vermitteln.
Es braucht kleine Fische, um große Fische zu fangen. Der Spatz in der Hand ist der Köder, mit dem wir die Taube auf dem Dach fangen werden.
Margot Müller, Frankfurt a.M., 02.08.2008